Und dann, wie bei einem ersten
Mal, sehe ich in einem jähen Erstaunen das Kreuz, als ob ich es noch nie
gesehen hätte, obwohl das Auge an solche Anblicke längstens gewöhnt ist.
Das Kreuz, das ich sehe, ist ein
altes, schon stark verwittertes Kreuz. Seine Farbe ist großteils abgebröckelt
und das blanke Holz schimmert durch. Auch der am Holz hängt: sein Leib, seine
Gestalt, erscheint vor mir nicht mehr so, wie ihn der Schnitzer geschnitzt hat.
Dieser Korpus ist verwahrlost und verlassen.
Wer das Kreuz vor einigen
Jahrzehnten hier aufgestellt hat, ist nicht zu erfahren. Vielleicht weiß es
nicht einmal mehr die Familie, der das Grundstück gehört. Auch ist verhüllt,
welch persönliche Not samt ihrer Geschichte, den Antrieb, der das Kreuz hier
errichtet hat. Die Balken des Kreuzes bewahren ihr Geheimnis. Offensichtlich
jedoch, an jenem Nachmittag, da ich vor dem Kreuz stehe, hat es längstens
seinen Besitzer verloren. Niemand kümmert sich darum, und auch der verwelkende
Strauß Feldblumen, den man der Romantik wegen erwartet, ist nicht vorhanden.
Als ich das Kreuz ganz erreicht
habe, da berührt einer mein Herz. Ich sehe zum Kreuz empor. Es ragt auf. Ich
sehe, dass das Holz in den Himmel hinein wuchs und sein Schatten über dem Land
liegt. — Dann sehe ich, dass da einer zwischen Himmel und Erde Hängt: ein
Menschensohn. — Wahrhaftig, da hängt einer! Es ist ein Mann, dürftig bekleidet.
Sie haben ihn angenagelt. Sie haben ihn der Erde entrissen und doch zugleich an
sie gefesselt. Er ist über das Land aufgestellt worden, damit die Menschen
daran ein Zeichen erkennen sollen, welches man nicht übersehen darf.
Ich stehe in Gedanken versunken
vor dem Kreuz, schaue immer wieder empor und frage mich: „Was soll der am Kreuz — Wer ist er überhaupt? — Ist es nicht der, welcher sich damals den Namen
gegeben hat: der Menschensohn?“ - Hat nicht seinetwegen in Jerusalem das Hohe
Gericht getagt und getobt, weil er auf die Frage, ob er der Messias sei,
behauptet hat: „Ja, ihr sagt es, ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn
zur Rechten der Macht Gottes sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen
sehen“? Hat ihn nicht seine Mutter „vom Heiligen Geist empfangen“? Ist er nicht
das „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt“? „Ist er der Herr unser Gott“?
Die Sonne wirft an diesen
Nachmittag ihre Strahlen oft gebündelt aus den schwebenden Wolken hervor. Das
Land leuchtet auf, wie man es in alten Stichen oder Bildern sehen kann. Immer
wieder treffen helle Strahlen das Kreuz, und dann legen die scharfen Schatten des
Kreuzes auf der Erde und verschmelzen mit ihr zu einer Einheit.
(P. Otto Maier
SJM.)
Quelle: Pilgerfahrt nach Fatima – 1067 – SJM-Verlag
- Neusäß
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