Während die wahre Liebe – der Sohn Gottes – am Kreuz
seine Hände ausbreitet, wächst die Dimension des Querbalkens über die
Kontinente und Sprachen hinweg, ist nicht mehr leeres Wort und eitles Gerede,
sondern Tat und Wahrheit. Während das Herz den Stoß des Todes erleidet, öffnet
es sich ganz und wird zum Zeichen und zum Appell an alle.
Keiner, der die Straßen dieser Welt durchwandert, kann
diese Zeichen entgehen. Wollte man auch dieses Kreuz verfluchen, wollte man es
dem Spott und dem beißenden Hohn überlassen, wollte man ihm entlaufen, wie es
die Bewohner von Jerusalem taten, als sie die Dunkelheit der Hinrichtungsstätte
enthüllte, - im tiefsten und letzten bleibt das Kreuz eine Realität, an die man
selbst geheftet ist.
Nicht der Hass, nicht die Stacheldrahtverhaue, Wachtürme
und Schutzwälle, nicht das infernale Dröhnen zerberstender Feuer, nicht die
tödlichen Giftwolken, ja nicht einmal der Parteivorsitz eingefleischter
Fanatiker, die Völker unterjocht halten sind das Letzte. Denn Hass ist nur der
erbärmliche Ersatz für eine wütende Ohnmacht. Er weist auf den Urschrei unserer
Existenz hin: auf den Schrei nach empfangender Liebe, aus der allein uns
Menschen wahre Geborgenheit zuwachsen kann. Diesem Schrei aus unerfüllten
Herzen kann niemand entgehen. Darum ist der Querbalken des Kreuzes in allen
gegenwärtig.
Der Größenwahn des Menschen baut die Türme von Babylon
und verwirrt die Sprachen, unser Herz aber sucht die Liebe. Und der da hängt an
einem Längsbalken und an einem Querbalken, dieser Menschensohn, er liebt. Seine
Liebe offenbart sich an seinem Leib: in Fleisch und Blut. Er ist an das Kreuz
geheftet. Nägel fixieren seine Hände. Eisenstifte durchdringen seine Füße.
Menschen haben ihn preisgegeben und das
Missverständnis und der Aufstand des Menschen gegen Gott. Nun hängt er da, den
man zuvor gezerrt, gequält und geschlagen hat; und aus seinen Wunden quillt
Blut hervor, das zur Erde nieder rinnt. Mochte er zerren und reißen, so viel er
wollte, er würde Hände und Füße nicht lösen können. Mochte er ruckweise und in
Zuckungen sich des Kreuzes entledigen wollen, er würde seine Qual nur
verdoppeln, er würde sie bis ins Grenzlose steigern, aber er käme vom Kreuz
nicht los. Man hat ihn entblößt. Er konnte sich den Menschen in seiner Schmach
nicht entziehen. Nur eines blieb ihm, durchzuhalten bis in die Flammen des
Todes hinein.
Da geschieht ein völlig Unerhörtes: Dieser Menschensohn
entzieht sich Gott, seinem Vater, nicht, wie wir das alle tun. Er rebelliert
nicht. Gehorsam hat er das Kreuz auf sich genommen. Gehorsam durchleidet er es,
bis er sein Leben in die Hände seines Vaters zurücklegt, dessen Willen er
erfüllt. Ja, er selbst besteigt das Holz der Schmach, um alle an sich zu
ziehen. Er bezahlt eine Schuld, die andere verbrochen haben. Er erfüllt vor
Gott, was andere im Trotz verweigern. Sein Tun geht an die Wurzel unseres
Seins, dorthin, wo das Wesen des Menschen offen steht vor der Macht dessen, der
den einzelnen beim Namen ruft. Darum wurde das „Ewige Wort“ Fleisch, um die
Sünden hinweg zunehmen. Und da der Trotz und die Verweigerung vor Gott, uns
Menschen dem Nichts, dem Nihilismus und dem Tod ausliefern in den Millionen und
Abermillionen Sterbender, deren Klagelied in den letzten Augenblicken ihres
Lebens jedesmal neu erschüttert. Sein Gehorsam bezeugt die unantastbare
Heiligkeit der Hoheit Gottes und stellt den göttlichen Willen wieder mitten
zwischen den Menschen. Dieser Gehorsam ist Leben im Tod.
O Sünde der Menschen! Wahrhaftig, sie kann sich bis in
die Stunde des Todes hinein in endlosen Selbstlügen betrügen. Man kann der
Annagelung und dem Kreuz jeden Tag von neuem entlaufen. Doch am Ende des Weges
wird man eingeholt, und (ob man will oder nicht) man hängt dann selbst zwischen
der Annagelung am Kreuz, um dem Tor des Todes entgegengeschleudert zu werden,
unausweichlich und absolut.
Man hat die Zwänge verlacht und wird bezwungen. Man hat
den am Kreuz mit Spott und Hohn überschüttet und haftet nun selbst daran. Man
hat sich gebärdet wie ein fetter Atheist und blieb am Schluss in den
Ungewissheiten der Fragen hängen, ungetröstet und unerlöst im vergehenden
Bangen des kommenden Gerichts. Ja, man kann die Tiefe seiner Seele erschlagen
und verschütten, aber jeder weiß (auch wenn er es leugnet), dass unter der Verschüttung
Wahrheit verborgen ist, oder
dass die Leiche der erschlagenen Tiefe einen ständig
anstarrt und sich nicht wegschaffen lässt.
Als Adam im Paradies gesündigt hat, floh er vor Gott.
Wahrhaftig, er floh! Er versteckte sich, er fühlte sich nackt. Ist nicht genau
dieses das Mysterium unserer rebellischen Generation: die Flucht, das Versteck,
die Leugnung und dann am Ende Spott und Hohn der Rebellion und das Auftürmen
der eigenen Werke bis vor die Himmel, um sich dahinter zu verbergen?
Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen. Wir wollen in
unserem Wissen Gott gleich sein. Denn die Exakte Naturwissenschaft (so meinen
viele) kann Gott völlig entbehren und bedarf Seiner nicht mehr. Wir wissen
selbst um die inneren Zusammenhänge und bestimmen darum selbst, was gut und
böse zu sein hat.
Der Apfel der Erkenntnis ist süß. Das berauschende Gefühl
menschlicher Erhabenheit durchbebend, und das bis in jene Sekunden hinein, da
unsere Augen in Jähen Erschrecken die eigene Nacktheit „ent-decken“, das blanke
Nichts, in dem wir nun darin stehen. Die Frucht vom Baum der Erkenntnis ist
eine Täuschung. Auf sie folgt der Tod und ihm entgeht keiner.
Aber diesem Tod geht das Kreuz voraus, an dessen Nägel
man hängt. In heißer Auflehnung zerrt man an der Anheftung und schreit, kommt
aber von den Nägeln nicht los, sondern sterbend verblutet man darin. Der letzte
Schrei steigt dann wieder aus der Tiefe der Seele hervor, aber er wird dort
herausgeschrien, wo schon kein Mensch mehr helfen kann, sondern nur Gott. Gott aber
(o entsetzliche Strafe!), der Herr ist nicht gegenwärtig! Oh, jener barbarische
Ungehorsam, das ist unsere Sünde: sie zerstückelt die Schutzlosesten und
Kleinsten im Schoße ihrer Mütter und mordet sie, um der Geilheit und Unzucht
willen zerstört sie die Liebe und Geborgenheit der Ehen und Familien unter den
Menschen, sie Rafft ohne Maßen und reißt viele Güter an sich, sie lügt in
goldenen Versprechungen, ihre Begierlichkeit kennt keine Grenzen und macht vor
keiner menschlichen Bastion halt. Sie zerstört den Hort der Familie in maßlosen
Emanzipationstänzen, sie kennt keine Zeiten der Anbetung, der Stille, der Ruhe,
ereifert sich lästernd gegen Gott und leugnet ihn öffentlich blankweg.
Aber der Ungehorsam ist schon in seiner Wurzel die
Zerstörung unseres Selbst. Denn jene barbarischen Kriege, die wir
heraufbeschwören, sind ja nicht nur das Versagen einiger beutegieriger
Industrieller oder machthungriger Politiker, sondern unser Stolz und Egoismus
und unsere Rebellion gegen Gott. Die Strafe steht: der Tod und die Abwesenheit
Gottes bis durch die Flammen des Todes hindurch.
P. Otto Maier
Quelle: Pilgerfahrt nach Fátima – 1967 – SJM-Verlag,
Neusäß
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