28.08.2019

„Beten Sie gern?“


Bischof Clemens Pickel 
Einen wichtigen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in einem Dorf in der ehemaligen DDR, in dem es nicht einmal Straßennamen gab, so klein war es. Trotzdem gab es einen Kindergarten, eine Schule, einen Feuerwehranhänger ohne Zugmaschine, einen Konsum, eine LPG und wie sich das alles damals nannte. Wir wohnten bei einer Bauernfamilie. Das Kinderschlafzimmer war über dem Kuhstall. Zur Kirche mussten wir mit dem Bus in die Stadt fahren. Das Geld reichte nicht jeden Sonntag für die Fahrt. Ein Auto hatten wir natürlich nicht. Wir waren die einzige Katholische Familie im Dorf. Als mein großer Bruder einmal vom Kaplan nach dem Religionsunterricht aus der Stadt nach Hause gebracht wurde, erzählte er uns kleineren Geschwistern, was er dort gelernt hatte, nämlich, dass im Himmel immer gebetet würde. Das löste bei mir alles andere als Interesse oder gar Enthusiasmus aus „immer beten?!“ - Inzwischen verstehe ich, was gemeint war, und denke, es stimmt. Man kann so sagen: Im Himmel wird immer gebetet. Bin ich jetzt ein erzkonservativer Fanatiker oder ein abgehobener Spinner für Sie? Natürlich geht es nicht um das Herunterrasseln von Texten, wenn ich Beten meine. Es geht nicht um Stress, sondern um Ruhe, nicht um „muss“, sondern um Glück, nicht um Leistung, sondern um Liebe. „Beten Sie gern?“, frage ich junge Leute, die ans Leben als Priester oder in einer Ordensgemeinschaft denken, denn ich weiß, dass die Zukunft der Kirche davon abhängt. Beten wurde im Kommunismus lächerlich gemacht, aber auch wie ein Staatsverbrechen verfolgt und bestraft. Als junger Priester in der zerfallenden Sowjetunion begegnete ich Menschen, die mich baten: „Lehren Sie mich, wie man betet!“ Theoretisch war das kaum möglich. Und praktisch?
Vor einiger Zeit haben Tausende von Christen im Süden Russlands eine besondere Erfahrung mit dem Gebet gemacht. Am Abend des 7. Februars 2012 endete ein langes Gebet in unserem Bistum. Neun Tage und neun Nächte, 216 Stunden ununterbrochen, hatten wir gebetet. Nein, nicht fürs Guinessbuch der Rekorde! Es war wie ein Klopfen an die Tür Gottes, an sein Herz. Wir baten um Priesterberufungen. Im ganzen Bistum hatten sich Pfarrgemeinden, Jugendgruppen, geistliche Gemeinschaften, Studenten, Kinder, Gesunde und Kranke daran beteiligt. Stundenweise – versteht sich! Manche hatten sich mehrmals eintragen lassen. Alle nahmen es sehr ernst. Eine einzige Stunde blieb offen. Das wurde dann meine, ganz eigene. Was es bedeutet, jahre- oder gar jahrzehntelang ohne Priester zu sein, wussten die Älteren noch aus eigener Erfahrung. Dass überhaupt einige diese schwere Zeit ausgehalten hatten, kommt einem Wunder mehr als nahe. Ich befürchte: Ein zweites Mal hält das die Kirche, jedenfalls dort bei uns, nicht aus. Jener 7. Februar 2012 war wie ein kleines Osterfest. Wir schlossen das neuntägige Gebet mit einem festlichen, sehr fröhlichen und dankbaren Gottesdienst in unserer kleinen Kathedrale ab. Es war – geistlich gesehen – eine so intensiv erlebte Zeit, dass sich viele innerlich bewegt dafür bedankten. Schon im Verlauf der Tage kamen Anrufe und Briefe, die von einem bisher ungekannten Gespür für Einheit zeugten. Wir hatten gemeinsam gebetet, wie eine große, große Familie. Kirchen liegen bei uns oft Hunderte Kilometer voneinander entfernt. Nun waren wir uns mit einem Mal alle ganz nahe, (Ich bezweifle natürlich, ob ich mit ein paar Worten wiedergeben kann, was da in der Luft lag.) Statt meinerseits an der Kirchentür für das kommen und Mitbeten zu danken, bedankten sich die Herausgehenden für die Erfahrung des Betens.  „Wir müssen das wieder machen“, sagten, nein, baten einige sofort. Und wie ging es weiter? Nachdem wir vier Jahre lang keinen einzigen Studenten hatten, der sich auf die Priesterweihe vorbereitete, meldeten sich bis zum Sommer drei junge Männer dafür an. Zufall? - Wenn Sie als Christ sagen, antworte ich ihnen: Bei Gott gibt es keinen Zufall. - „Na, trotzdem … ?“ - Beten sie eigentlich gern? Es sollte ja nur ein kleines Beispiel aus dem Alltag sein, für den Sinn des Betens und die Freude am Sinn, keine theologische Abhandlung und keine Frömmelei. Beten richtig verstanden – ist Zusammensein mit Gott, sogar, wenn wir es uns nur wünschen und nicht fühlen. Es ist keine Veranstaltung. (Da liegt manchmal der verhängnisvolle Fehler bei der Vorbereitung des Gottesdienstes.) Man kann beten lernen, und es ist ein Geschenk, das ich jedem wünsche.  - 

Bischof Clemens Pickel, geb. 1961 in Colditz/Sachsen, ist Bischof für das Europäische Südrussland in Saratow.


Quelle: Der Fels – Katholische Wort in die Zeit – 45. Jahr – August/September 2014

Keine Kommentare: