Bischof Clemens Pickel |
Einen wichtigen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in einem
Dorf in der ehemaligen DDR, in dem es nicht einmal Straßennamen gab, so klein
war es. Trotzdem gab es einen Kindergarten, eine Schule, einen
Feuerwehranhänger ohne Zugmaschine, einen Konsum, eine LPG und wie sich das
alles damals nannte. Wir wohnten bei einer Bauernfamilie. Das
Kinderschlafzimmer war über dem Kuhstall. Zur Kirche mussten wir mit dem Bus in
die Stadt fahren. Das Geld reichte nicht jeden Sonntag für die Fahrt. Ein Auto
hatten wir natürlich nicht. Wir waren die einzige Katholische Familie im Dorf.
Als mein großer Bruder einmal vom Kaplan nach dem Religionsunterricht aus der
Stadt nach Hause gebracht wurde, erzählte er uns kleineren Geschwistern, was er
dort gelernt hatte, nämlich, dass im Himmel immer gebetet würde. Das löste bei
mir alles andere als Interesse oder gar Enthusiasmus aus „immer beten?!“ -
Inzwischen verstehe ich, was gemeint war, und denke, es stimmt. Man kann so
sagen: Im Himmel wird immer gebetet. Bin ich jetzt ein erzkonservativer
Fanatiker oder ein abgehobener Spinner für Sie? Natürlich geht es nicht um das
Herunterrasseln von Texten, wenn ich Beten meine. Es geht nicht um Stress,
sondern um Ruhe, nicht um „muss“, sondern um Glück, nicht um Leistung, sondern
um Liebe. „Beten Sie gern?“, frage ich junge Leute, die ans Leben als Priester
oder in einer Ordensgemeinschaft denken, denn ich weiß, dass die Zukunft der
Kirche davon abhängt. Beten wurde im Kommunismus lächerlich gemacht, aber auch
wie ein Staatsverbrechen verfolgt und bestraft. Als junger Priester in der
zerfallenden Sowjetunion begegnete ich Menschen, die mich baten: „Lehren Sie
mich, wie man betet!“ Theoretisch war das kaum möglich. Und praktisch?
Vor einiger Zeit haben Tausende von Christen im Süden
Russlands eine besondere Erfahrung mit dem Gebet gemacht. Am Abend des 7.
Februars 2012 endete ein langes Gebet in unserem Bistum. Neun Tage und neun
Nächte, 216 Stunden ununterbrochen, hatten wir gebetet. Nein, nicht fürs Guinessbuch
der Rekorde! Es war wie ein Klopfen an die Tür Gottes, an sein Herz. Wir baten
um Priesterberufungen. Im ganzen Bistum hatten sich Pfarrgemeinden,
Jugendgruppen, geistliche Gemeinschaften, Studenten, Kinder, Gesunde und Kranke
daran beteiligt. Stundenweise – versteht sich! Manche hatten sich mehrmals
eintragen lassen. Alle nahmen es sehr ernst. Eine einzige Stunde blieb offen.
Das wurde dann meine, ganz eigene. Was es bedeutet, jahre- oder gar
jahrzehntelang ohne Priester zu sein, wussten die Älteren noch aus eigener
Erfahrung. Dass überhaupt einige diese schwere Zeit ausgehalten hatten, kommt
einem Wunder mehr als nahe. Ich befürchte: Ein zweites Mal hält das die Kirche,
jedenfalls dort bei uns, nicht aus. Jener 7. Februar 2012 war wie ein kleines
Osterfest. Wir schlossen das neuntägige Gebet mit einem festlichen, sehr
fröhlichen und dankbaren Gottesdienst in unserer kleinen Kathedrale ab. Es war
– geistlich gesehen – eine so intensiv erlebte Zeit, dass sich viele innerlich
bewegt dafür bedankten. Schon im Verlauf der Tage kamen Anrufe und Briefe, die
von einem bisher ungekannten Gespür für Einheit zeugten. Wir hatten gemeinsam
gebetet, wie eine große, große Familie. Kirchen liegen bei uns oft Hunderte
Kilometer voneinander entfernt. Nun waren wir uns mit einem Mal alle ganz nahe,
(Ich bezweifle natürlich, ob ich mit ein paar Worten wiedergeben kann, was da
in der Luft lag.) Statt meinerseits an der Kirchentür für das kommen und
Mitbeten zu danken, bedankten sich die Herausgehenden für die Erfahrung des Betens. „Wir müssen das wieder machen“, sagten, nein,
baten einige sofort. Und wie ging es weiter? Nachdem wir vier Jahre lang keinen
einzigen Studenten hatten, der sich auf die Priesterweihe vorbereitete,
meldeten sich bis zum Sommer drei junge Männer dafür an. Zufall? - Wenn Sie als
Christ sagen, antworte ich ihnen: Bei Gott gibt es keinen Zufall. - „Na,
trotzdem … ?“ - Beten sie eigentlich gern? Es sollte ja nur ein kleines
Beispiel aus dem Alltag sein, für den Sinn des Betens und die Freude am Sinn, keine
theologische Abhandlung und keine Frömmelei. Beten richtig verstanden – ist
Zusammensein mit Gott, sogar, wenn wir es uns nur wünschen und nicht fühlen. Es
ist keine Veranstaltung. (Da liegt manchmal der verhängnisvolle Fehler bei der
Vorbereitung des Gottesdienstes.) Man kann beten lernen, und es ist ein
Geschenk, das ich jedem wünsche. -
Bischof Clemens
Pickel, geb. 1961 in Colditz/Sachsen, ist Bischof für das Europäische
Südrussland in Saratow.
Quelle: Der Fels – Katholische Wort in die Zeit –
45. Jahr – August/September 2014
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