Das Grasperlenspiel
VON LUCAS WIEGELMANN
Der kroatische Trainer Zlatko Dalic betete, um im Spiel
gegen England cool zu bleiben Wenn es eng wurde, berührte er den Rosenkranz in
seiner Tasche. Eine Anleitung
Die Körpersprache des Zlatko Dalic spiegelte den wilden
Verlauf dieses merkwürdigen Fußballspiels auf den ersten Blick nur bedingt
wider. Ja, hin und wieder riss er die Arme in die Höhe, klatschte in die Hände
oder zeichnete irgendwelche unverständlichen Laufbewegungen in die Luft. Oft
aber sah man Dalic einfach nur ganz ruhig dastehen in seiner Coachingzone, die
Hände in den Hosentaschen verborgen. Glaubt man Dalics eigenen Angaben, sind
solche Momente allerdings für seine Arbeit mindestens genauso wichtig wie das
Fuchteln und Dirigieren. Es sind die Momente, in denen Zlatko Dalic seinen Rosenkranz
berührt.
Zu Beginn der WM hatte Dalic einem katholischen
Radiosender in Kroatien ein Interview gegeben. Darin sagte er: „Alles, was ich
in meinem Leben und in meiner professionellen Karriere getan habe, verdanke ich
meinem Glauben und ich bin dem Herrn dafür dankbar.“ Deshalb trage er jederzeit
einen Rosenkranz bei sich. „Wenn ich merke, dass es schwierig wird, stecke ich
meine Hand in die Tasche und halte mich daran fest. Dann empfinde ich auf
einmal alles leichter.“ Manchmal zieht Dalic seinen Rosenkranz auch hervor,
eine Kette mit weißen Perlen, die er sich um die Faust wickelt.
Tatsächlich ist auffällig, dass Zlatko Dalic auch in den
hektischsten Phasen des Turniers bisher immer die Ruhe weghatte. Der Rosenkranz
könnte ihm dabei geholfen haben. Das Rosenkranzgebet ist ein jahrhundertealter
Trick (!), mit dem katholische Christen ihre Gedanken zu ordnen, sich auf
Gottes Nähe zu konzentrieren und Ruhe ins Boot zu bringen versuchen. Für
Ungeduldige ist der Ablauf dieses Gebets wegen seiner ständigen Wiederholungen
ziemlich langweilig; geübte Rosenkranzbeter schwören aber auf die meditative
Kraft, die sich gerade durch die monotone Gleichförmigkeit entfalten soll.
Die äußere Gestalt der Rosenkranzkette entspricht dem
Aufbau des Gebetes. Der Grundablauf geht so: Fünf Gruppen à zehn Perlen
gleicher Farbe (in Dalics Fall weiß) stehen für fünf Gruppen aus je zehn
Ave-Maria, die 1aut oder leise, alleine oder mit anderen Gläubigen gebetet
werden. Diese Zehnergruppen von Ave-Maria werden unterbrochen von je einer
andersfarbige Perle (oder einem Anhänger), die für ein Vaterunser steht. Der
Beter braucht nicht mitzuzählen, beim wievielten Ave-Maria er gerade ist,
sondern er wandert beim Beten mit den Finger von Perle zu Perle.
Dieses Grundmodell wird nun bei jedem Durchgang leicht
erweitert: Jedes Rosenkranzgebet ist nämlich einem bestimmten theologischen Thema
gewidmet, über das der Gläubige besonders nachdenken soll, etwa der Mutterschaft
Mariens, der Passion Jesu oder seine Auferstehung. Jedes dieser Themen ist formuliert
in fünf „Rosenkranzgeheimnissen“ oder „Gesätzen“ (von Satz). Sie werden an
einer bestimmten Stelle des jeweiligen Ave-Maria eingefügt. Zusammen mit einer
Art Vorspann des Gebets (einmal Glaubensbekenntnis, einmal Vaterunser, dreimal
Ave-Maria) dauert eine Runde Rosenkranz insgesamt etwa zwanzig Minuten. Da
Kroatien im laufenden WM-Turnier stark zu Verlängerungen neigt, könnte Zlatko
Dalic also theoretisch bis zu sechs vollständige Rosenkränze pro Spiel
schaffen.
Dass Dalic seinen Rosenkranz so gern mit zur Arbeit
nimmt, passt gut zum Ursprung dieses Gebets. Der Rosenkranz entstand einst als
populärer Ersatz für das Stundengebet der Priester und Mönche, das viel
aufwendiger und komplizierter ist und für die geschützte Sphäre der Kirchen und
Klöster gedacht war. Der Rosenkranz hat seinen Platz seit jeher im Alltag der
Laien. Ein paar Vaterunser und Ave-Maria konnte schon im Mittelalter jeder beten,
auch wenn er nicht lesen und schreiben konnte.
Die Tradition reicht weit zurück, wohl bis ins 13.
Jahrhundert. Der Wortlaut der noch heute gebräuchlichen Gesätze taucht erstmals
in einer Zisterzienserschrift von 1483 auf. Die überragende Bedeutung, die man
diesem Gebet schon bald für das Seelenheil der Gläubigen zusprach, kann man in
Michelangelos „Jüngstem Gericht“ in der Sixtinischen Kapelle sehen, wo manche Verstorbene
mit Rosenkränzen als Abschleppseilen aus der Unterwelt hinauf ins Licht gezogen
werden.
Nach der Reformation wurde der Rosenkranz zugleich eine
Art Erkennungsmerkmal der Katholiken. Protestanten beten kein Ave-Maria und
folglich auch keine Rosenkränze, weil bei ihnen die Marienverehrung eine
kleinere Rolle spielt. Papst Paul VI. dagegen nannte den Rosenkranz noch in den
70er-Jahren eine Kurzfassung des ganzen Evangeliums“. Und Johannes Paul 1I.,
einer der glühendsten Rosenkranzverfechter aller Zeiten, hat sogar eine Gruppe
neuer Gesätze erlassen.
Indem Trainer Zlatko Dalic sich in diese Tradition
stellt, lenkt er auf eine uralte Frömmigkeitsübung, die vielen Menschen schon
in schweren Zeiten Halt gegeben hat, wieder neue Aufmerksamkeit. Allerdings
muss offen bleiben, ob es ohne Dalics Stoßgebete am Ende vielleicht doch beim
1:0 für England geblieben wäre - oder aber ob Kroatien nicht sogar 3:1 gewonnen
hätte, hätte Dalic einfach ein paar Mal häufiger in seine Hosentasche gelangt.
Wie viel Anteil der liebe Gott an einzelnen WMSpielen nimmt, ist umstritten,
Rosenkranz hin oder her. Der renommierte Theologe Eberhard Schockenhoff gab schon
während der WM 2014 in Brasilien zu bedenken: „Die Theologie ist skeptisch,
Gott zu sehr in die menschlichen Angelegenheiten hineinzuziehen. Wenn er
allwissend ist, weiß er sowieso, wer Weltmeister wird.“
Quelle: „DIE WELT“, 13. Juli 2018, S. 18 (Feuilleton).
Anm. von diesem Blogg: Die Aussage des renommierten
Theologen stimmt nicht mit dem Katholischen Katechismus überein. Dort heißt es
unter vielen anderen Stellen: „Wer an der rettenden Liebe Gottes teilnimmt,
begreift, daß jedes Bedürfnis Gegenstand des Bittens werden kann. Christus,
der alles angenommen hat, um alles zu erlösen, wird durch die Bitten, die wir
in seinem Namen dem Vater darbringen, verherrlicht. Mit dieser Zuversicht
ermahnen uns Jakobus und Paulus, jederzeit zu beten.“ (KKK 2633)
Im Sinne der erwähnten „skeptischen Theologie“ wäre jedes Beten nutzlos, denn „Gott ist allwissend“; abertrotzdem müssen wir Ihn „sehr in die menschlichen Angelegenheiten hineinziehen“! „Betet (bittet) ohne Unterlass“, sagt der hl. Paulus (1 Thess 5,17)
Beten ist immer möglich: „Selbst auf dem Marktplatz oder
auf einem einsamen Spaziergang ist es möglich oft und eifrig zu beten. Auch
dann, wenn ihr in eurem Geschäft sitzt, oder gerade kauft oder verkauft, ja
selbst wenn ihr kocht“ (hl. Johannes Chrysotomus, ecl. 2). (KKK 2743)
„Auf einmal alles leichter“;Zlatko Dalic im WM-Halbfinale. Bildlegende zum Artikel
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