Diese Art von Rebellion hatte es vorher noch nicht
gegeben. Das nationalsozialistische Regime war mit einer ungewohnten Qualität
von Widerständigkeit konfrontiert. Daher reiste im Juni 1943 auch der zweite
Senat des Volksgerichtshofes nach Lübeck und verhandelte gegen die drei
katholischen Kapläne Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller sowie
den evangelisch-lutherischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink und acht zehn
Laien, die allesamt schon gut ein Jahr vorher festgenommen worden waren.
Bislang hatte sich der Volksgerichtshof gescheut,
Geistliche anzuklagen. Sie wurden auf andere, "diskretere" Weise aus
dem Verkehr gezogen und meist in Konzentrationslager verschleppt. Doch in
Lübeck war eine neue Situation eingetreten, weil Geistliche hier
konfessionsübergreifend gehandelt hatten. Sie hatten unter anderem in
Gesprächskreisen und in der Verkündigung kritisch zum Nationalsozialismus
Stellung bezogen, Meldungen sogenannter „Feindsender“ abgehört und
weiterverbreitet und vor allem Predigten des Bischofs von Münster, Clemens
August Graf von Galen, als Flugschriften verbreitet. Galen hatte in seinen
Predigten 1941 in heiligem Zorn die massenweise Ermordung sogenannten
.Jebensunwerten Lebens" durch das Hitler-Regime gebrandmarkt, weitere
Morde dadurch teilweise verhindert und damit öffentlich die Machthaber in
vorher unvorstellbarer Weise herausgefordert.
Der Historiker Peter Voswinckel hat nun zwei Briefe
entdeckt, von denen besonders einer belegt, dass Hitler erstens selbst in das
Verfahren gegen die Lübecker Geistlichen und Laien eingriff und sich zweitens
auch nur vor der Nennung des Namens des Bischofs von Münster ängstigte. In
einem Brief vom 29. März 1943 ließ Reichsjustizminister Thierack durch einen
Mitarbeiter dem Ankläger im Lübecker Verfahren, Oberreichsanwalt Drullmann,
Folgendes mitteilen: „Der Inhalt der Anklageentwürfe gegen Prassek und andere
und gegen Stellbrink ist dem Führer vorgetragen worden. Der Führer hat
angeordnet, daß das Verfahren wegen der hochverräterischen Betätigung der
Beschuldigten durchgeführt wird, aus der Anklage aber jene Teile herausgenommen
werden, die auf der Verbreitung der Predigt des Bischofs von Münster basieren.“
Hier fungierte der „Führer“ tatsächlich und nicht nur
formal als „oberster Gerichtsherr“, um ein Wort des Staatsrechtlers Carl
Schmitt aus dem Jahre 1934 zu nennen. Doch wagten er und die Seinen es nicht,
dem gefürchteten und bei seinen katholischen Westfalen äußerst beliebten „Löwen
von Münster“ den Prozess zu machen. Da hielt man sich lieber schadlos an drei
jungen katholischen Diaspora-Geistlichen und einem von seiner Kirche
verlassenen evangelischen Pastor. Diese wurden zum Tode verurteilt und am 10.
November 1943 gemeinsam enthauptet.
Aus „FAZ“ vom 24. Oktober 2008, Feuilleton, S. 40, „Wie Hitler persönlich in das Verfahren gegen Bischof von Galen eingegriffen hat: Lübeck zeigt eine Ausstellung mit neuen Funden“ zu
folgendem Anlass:
Der ökumenische Lübecker „Arbeitskreis 10. November“ hat
nun eine instruktive Ausstellung zu Leben und Wirken Bischof von Galens und
seinem Einfluss auf die Lübecker Märtyrergeistlichen initiiert. Sie wird am
kommenden Sonntag, dem 26. Oktober (2008), im Ostchor des evangelischen
Lübecker Domes vom katholischen Hamburger Erzbischof Thissen eröffnet und ist
bis 21. November (2008) zu sehen. Sie präsentiert auch den Wortlaut jener zwei
Briefe, die Allmacht wie Angst der nationalsozialistischen Führung
dokumentieren.
Autor: MARTIN THOEMMES
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