IV. Die sexuelle Revolution
22. FRAGE: Nach Aussagen einiger
Synodenteilnehmer haben historische Entwicklungen eine
anthropologisch-kulturelle Veränderung begünstigt, die heute alle Aspekte des
Lebens beeinflusst und die eine tief greifende Änderung der Kirchenpastoral und
sogar einiger vermeintlich obsolet gewordener Punkte der überlieferten Lehre
über den Menschen und die Familie notwendig macht. Wäre das nicht ein Zeichen
der Zeit?
ANTWORT: „…Es obliegt der Kirche
allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Lichte
des Evangeliums zu deuten” (Gaudium et Spes, Nr. 4). Es
ist wichtig, dies hervorzuheben: Die Zeichen der Zeit müssen im Licht der
göttlichen Offenbarung gedeutet werden.
Für die Kirche ist der einzige erwünschte „neue Mensch“, die einzige
radikale Veränderung, die in einem Menschen stattfinden kann, diejenige, die
durch die heiligmachende Gnade herbeigeführt wird, die den Menschen auf die
„übernatürliche“ Ebene erhebt und ihn „Gott ähnlich“ macht. Die mächtigsten
historisch-kulturellen Faktoren können die Natur des Menschen nicht verändern;
sie können sie erheben oder erniedrigen, aber sie können sie nicht in ihrer
Substanz verändern. Die Veränderungen der letzten Jahre sind das Ergebnis einer
künstlich entfachten und gesteuerten sexuellen
Revolution, die zunächst im sozialen und dann auch im individuellen Bereich
Tendenzen, Gewohnheiten und Mentalitäten verändert hat. Diese Veränderungen
können wir nicht einfach annehmen, als seien sie eine unabwendbare und
unabwägbare Realität. Sie müssen auf der Basis eines moralischen Urteils im
Lichte des göttlichen und natürlichen Rechts analysiert und bewertet werden,
wie es von der Kirche gelehrt wird.
23. FRAGE: Ist der Hinweis auf eine „sexuelle Revolution“ nicht bloß ein Vorwand,
um gegen die unvermeidbare Evolution der Sitten vorzugehen?
ANTWORT: Die sexuelle Revolution ist eine
Tatsache, die sich durch historisch-soziale Studien sehr leicht feststellen und
an ihren schwerwiegenden Folgen in den letzten 60 Jahren bemessen lässt.
Die
Botschaft dieser Revolution ist, dass die Menschen nur glücklich werden können,
wenn sie ihren Trieben – vor allem den sexuellen - freien Lauf lassen und wenn
alle Regeln – nicht nur die gesetzlichen, sondern auch die religiösen und
sittlichen –, die das Ausleben dieser Triebe eingrenzen könnten, abgeschafft
werden. Das setzt nicht nur die Abschaffung der „bürgerlichen Gesellschaft“
voraus, sondern auch und vor allem die Zerstörung der Familie; das geschieht
entweder dadurch, dass ihr Entstehen überhaupt verhindert wird oder dadurch,
dass man ihre Bedeutung relativiert,
indem man sie mit jeder Art von Verbindung, selbst der homosexuellen,
als gleichwertig darstellt.
Der
Ausdruck „sexuelle Revolution“ stammt aus einem im Jahr 1936 veröffentlichten
Buch mit dem Titel Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen. Der Autor dieses Werks, der
Österreicher Wilhem Reich, war ein hochrangiger Vertreter der
Schule, die die psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud mit den sozialen
Theorien von Karl Marx kombinierte. Die darin präsentierten Ideen wurden von
Herbert Marcuse und von den Theoretikern der 68er Revolution verbreitet.
Der
Philosoph Jean-Marie Meyer erläutert diese Ideologie aus einer noch breiteren
Sicht, nämlich der neo-evolutionistischen des Materialismus Darwin'scher
Prägung, nach der Mensch, Familie, Sexualität, Person usw. überholte Konzepte
seien, die durch eine neue Realität ersetzt werden sollen, frei von allen
Vorurteilen (vgl. J-M Meyer, Familie,
Natur und Person in Lexicon, Termini
ambigui e discussi su famiglia, vita e questioni, etiche, herausgegeben vom
Päpstlichen Rat für die Familie 2006, Centro Editorial EDB, SS. 469-473).
24.
FRAGE: Ist die sexuelle Revolution nicht
eine spontane Erscheinung, die die
Impulse und Forderungen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringt?
ANTWORT: Die sexuelle Revolution war und
bleibt eine der Gesellschaft aufgedrängte Erscheinung, die von gut
organisierten und finanziell starken ideologischen Gruppen und Lobbies
hervorgebracht und gesteuert wurde und wird. Sie bedient sich gewisser
ungeordneter Tendenzen der menschlichen Natur, die instrumentalisiert werden,
um einen auf dem Reißbrett entworfenen revolutionären Plan umzusetzen. Diese
Lobbies bestehen aus tausenden kleinen militanten Gruppen, die von einem
internationalen politischen und Finanzsystem gefördert und von der
Propaganda-Maschinerie der Medien unterstützt werden.
25.
FRAGE: War die sexuelle Revolution nicht
eine positive kulturelle Entwicklung, die den Menschen mehr persönliche
Freiheit gebracht hat?
ANTWORT: Eine solche Auffassung von
persönlicher Freiheit ist falsch und schädlich; die Freiheit wird dadurch als
Willkür definiert und nicht mehr als die Fähigkeit des Menschen, sich aus
freiem Willen für das Gute zu entscheiden.
In
Wirklichkeit hat die sexuelle Revolution den Menschen nicht größere Freiheit,
sondern vielmehr eine größere Versklavung gebracht, eine Abhängigkeit von ihren
niedersten Instinkten, die sie wieder in die „Tiefen des Heidentums“
zurückführen; sie hat unter den Menschen eine Art Krieg aller gegen alle auf der
Suche nach höchstmöglicher sexueller Befriedigung hervorgerufen. (s. F.
López-Illana, Ehe, Trennung, Scheidung
und Gewissen in: Päpstlicher Rat für die Familie, Lexicon, Termini ambigui i discussi su famiglia, vita e questioni
etiche, EDB 2006, SS. 683-700).
Vom
religiösen Standpunkt aus hat die sexuelle Revolution viele Menschen der von
Gott geschaffenen natürlichen Ordnung, der durch Jesus Christus erwirkten
Erlösung und der vom Heiligen Geist durch die Kirche geförderten Heiligung
entfremdet. In Wirklichkeit bedeutet die sexuelle Revolution einen historisch
gegenläufigen Prozess der Rückkehr zu alten heidnischen Sitten, durch den das
sexuelle Vergnügen einen höheren Stellenwert bekommen hat als
Pflichtbewusstsein und der Sinn für Verantwortung. Der sexuelle Akt wurde
dadurch von der wahren Liebe getrennt und sein ursprünglicher und tatsächlicher
Zweck der Zeugung von Kindern wurde zu einer lästigen Nebenerscheinung
degradiert, vor der wir uns „schützen“ müssen (vgl. J.J. Pérez-Soba und S.
Kampowski, ebd., Kap. 1).
26.
FRAGE: Welcher Aspekt der sexuellen Revolution bedroht heute am schwersten die
Familie?
ANTWORT: Ohne Zweifel ist es die Gender-Ideologie. Sie theoretisiert,
dass der Mensch von Geburt an von einem anarchischen, „polimorph perversen“
Instinkt beherrscht wird, der zu jeglichem erotischen Objekt tendieren kann und
für sich jede beliebige sexuelle Identität oder Rolle frei wählen kann (daher Gender = Genus = Geschlecht). Jeder hat
also das Recht, frei ein Geschlecht unter vielen möglichen zu wählen, um es
später eventuell durch ein anderes einzutauschen, entsprechend einer neuen
„sexuellen Orientierung“.
Nach
dieser Ideologie hat die sexuelle Verschiedenheit zwischen Mann und Frau, und
daher ebenso zwischen Ehemann und Ehefrau und zwischen Vater und Mutter ihren
Ursprung nicht in der Natur, sondern wird dem Menschen von einer willkürlichen
„Kultur“ durch ein diskriminierendes und unterdrückerisches System
aufgezwungen. Institutionen wie Familie, Schule und Kirche, die die Bildung und
Erziehung der Kinder beeinflussen, gelten als Säulen dieses Systems und als
Hindernisse für die Kinder auf ihrem Weg zu einer freien Entscheidung über ihre
„sexuelle Orientierung“ und „reproduktive Rolle“.
Die
Gender-Ideologie zielt darauf ab, die Kinder und die Erwachsenen „von diesem
Unterdrückungssystem zu befreien“, um durch die „Dekonstruktion“ der sexuellen
und reproduktiven Rollenverteilung und der gesellschaftlichen Institutionen,
besonders der familiären, schulischen und religiösen, eine „sexuell klassenlose
Gesellschaft“ zu schaffen. Vertreter dieser Ideologie fordern daher, dass
Schulprogramme und Programme der familiären „Umerziehung“ und der religiösen
„Erneuerung“ das Weitergeben von Sitten und Glauben verbieten und durch die
Lehren der Gender-Ideologie ersetzen sollen (vgl. O. Alzamora, Ideologia di genere: pericoli e portata,
in: Päpstlicher Rat für die Familie, Lexicon
cit. SS. 545-560)
Wie man
sieht, zielt diese Revolution – ausgerufen 1995 in Peking auf der 4.
Weltkonferenz der UNO über die Frau – auf eine gefährliche, antichristliche,
sexuelle, kulturelle und soziale Unterwanderung ab, die sich leider auch in
vielen katholischen Kreisen eingeschlichen hat und im Moment mehr Reaktionen
unter Eltern hervorruft als unter den Vertretern der Kirche.
Quelle:
„Vorrangige Option für die Familie“
100 Fragen und 100 Antworten im Zusammenhang mit der Synode
von S.E. Erzbischof Aldo di Cillo Pagotto SSS, S.E. Bischof Robert F. Vasa und S.E. Weihbischof Athanasius Schneider
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