03.03.2009

Papst Johannes Paul II., die Abtreibung und der Holocaust

Was aber die Toten selbst betrifft, so lässt er keinen Zweifel daran, dass er die sechs Millionen Toten des deutschen Menschheitsverbrechens nicht prinzipiell von dem Millionenheer der toten Kinder im Mutterleib unterscheidet - Von Paul Badde / Die Welt.

Wien (aus kath.net/DieWelt) Aus aktuellem Anlass bringt kath.net einen Artikel von Paul Badde aus der WELT aus dem Jahre 2005.Seit 1993 sind pro Jahr rund 46 Millionen Kinder weltweit abgetrieben worden, wie das Alan Guttmacher Institute in New York in einer Studie für die „World Health Organisation“ schätzt, darunter 7,8 Millionen Kinder pro Jahr in Europa (d.h. total seit 1993 etwa 100 Millionen) und über drei Millionen in dem reichen und allmählich vergreisenden Deutschland.

1993 war auch das Jahr, in dem Papst Johannes Paul II. mit Józef Tischner und Krzysztof Michalski, zwei Philosophen aus einer polnischen Heimat, in seinem Sommersitz Castel Gandolfo über dem Albaner See ein langes Gespräch über Gott, die Welt und das Geheimnis des Bösen führte.

Das Böse sei immer das Fehlen von etwas Gutem, „ein Verlust, ein Mangel“, erklärte der Papst seinen beiden Freunden damals – und seit jenem Gespräch fehlen nun also rund 450 Millionen Kinder auf der Welt, die ihre Mütter oder Väter aus dem einen oder anderen Grund nicht annehmen wollten.

Die Tonbandabschrift ihres Gesprächs hat der Papst letztes Jahr noch einmal für eine Veröffentlichung überarbeitet – nachdem Jozef Tischner im Jahr 2000 schon gestorben war – und nun wird es am Mittwoch in Italien und Deutschland als Buch unter dem Titel „Erinnerung und Identität“ erscheinen. Vor der Veröffentlichung schienen die Sicherheitsvorkehrungen um das Buch schärfer als um Fort Knox.

Es gab ein striktes Embargo, das jeder unterschreiben musste, der Einblick in das Manuskript oder die Druckfahnen bekam. In Warschau bekam das Embargo letzte Woche aber dennoch ein Leck. Als Skandal vorab meldete die Nachrichtenagentur AP deshalb aus Polen: „Papst vergleicht Holocaust mit Abtreibung“ (vgl. WELT vom 17.2.2005). Und wer das Buch heute in aller Ruhe liest, muss sagen: Ja, das tut er unbedingt!In keiner Weise vergleicht der Papst zwar die Methoden oder Absichten der Massenmörder von Auschwitz mit jenen Müttern, die sich zu einer Abtreibung entschließen.

Was aber die Toten selbst betrifft, so lässt er keinen Zweifel daran, dass er die sechs Millionen Toten des deutschen Menschheitsverbrechens nicht prinzipiell von dem Millionenheer der toten Kinder im Mutterleib unterscheidet. „Wenn der Mensch allein, ohne Gott, entscheiden kann, was gut und was böse ist“, führt er im ersten Teil seiner nun inkriminierten Passage aus, „dann kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist. Entscheidungen dieser Art wurden im Dritten Reich gefällt von Menschen, die – nachdem sie auf demokratischen Wegen zur Macht gekommen waren – sich dieser Macht bedienten, um die perversen Programme der nationalsozialistischen Ideologie zu verwirklichen, die sich an rassistischen Vorurteilen orientierten.“

Dabei bleibt er jedoch nicht stehen. „An diesem Punkt kann man es nicht unterlassen“, fährt er wenige Zeilen später fort, „ein Problem anzusprechen, das heute außerordentlich aktuell und schmerzlich ist. Nach dem Sturz der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung de facto aufgehört.

Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen. Und diesmal handelt es sich um eine Vernichtung, die sogar von demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen ist, in denen man sich auf den zivilen Fortschritt der Gesellschaften und der gesamten Menschheit beruft.“Den Ausdruck „Vernichtung“ benutzt der Papst also tatsächlich für beide Vorgänge. Nach diesen Worten handelt es sich hier nicht einmal um einen Vergleich, sondern um ein begriffliches In-Eins-setzen eines wesentlich identischen Vorgangs.

Damit greift der greise Johannes Paul II. mit letzter Kraft, fast schon tollkühn und jedenfalls jenseits aller politischen Korrektheit noch einmal selbst in den neuen Europäischen Kulturkampf ein. Die ersten Reaktionen lassen daran keinen Zweifel. „Wenn der Papst Abtreibung und den Holocaust in einen Zusammenhang bringt, fehlt es ihm an moralischer und ethischer Orientierung“, gab Volker Beck, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen, vor der Netzeitung schon zu Protokoll.

Die Gleichsetzung des Holocaust mit der „Abtreibungsproblematik“ sei „genauso unerträglich wie das Unwort Bombenholocaust“. Den Papst fordert er kategorisch auf „das Buch zurück zu ziehen“.Und Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bescheinigte dem Papst in der gleichen Ausgabe, dass die „Spitze der Katholischen Kirche nicht begriffen“ habe oder nicht begreifen wolle, dass man den Holocaust nicht mit der Abtreibung vergleichen könne. Es gebe einen gewaltigen Unterschied „zwischen einem „fabrikmäßigen Völkermord und dem, was Frauen mit ihrem Körper tun.“

Dass der Papst aber sehr wohl weiß, was er sagt und sehr wohl meint, was er schreibt, macht er noch deutlicher in den folgenden Sätzen dieses Zusammenhangs. Denn nach dem Begriff der „Sünde“, den Rocco Buttoglione im letzten Herbst wieder zu einer politischen Kategorie werden ließ, fügt er dem Diskurs Europas nun auch noch die Dimension des „Bösen“ hinzu jedoch für die Gegenwart und nicht nur für die Geschichte, und ausgerechnet am Reizthema der so genannten „Homo-Ehe“.

Die Passage macht zudem deutlich, dass er sie den Gesprächen von 1993 mit eigener Hand in den letzten Monaten noch eigens hinzugefügt haben muss, eindeutig nach der Buttoglione-Affäre, wenn er schreibt: „Auch an anderen schweren Formen der Verletzung des Gesetzes Gottes fehlt es nicht. Ich denke zum Beispiel an den starken Druck des Europäischen Parlaments, homosexuelle Verbindungen anzuerkennen als eine alternative Form der Familie, der auch das Recht der Adoption zusteht.

Es ist zulässig und sogar geboten, sich zu fragen, ob nicht hier – vielleicht heimtückischer und verhohlener – wieder eine neue Ideologie des Bösen am Werk ist, die versucht, gegen den Menschen und gegen die Familie sogar die Menschenrechte auszunutzen. Warum geschieht all das? Welches ist die Wurzel dieser nachaufklärerischen Ideologien? Die Antwort ist – alles in allem – ganz einfach: Das geschieht, weil Gott als Schöpfer und damit als Ursprung der Bestimmung von Gut und Böse verworfen worden ist. Man hat den Begriff dessen verworfen, was uns im Tiefsten zu Menschen macht.“

Von der Sache her geht er dabei kaum über das hinaus, was Kardinal Ratzinger im letzten November gesagt hat (siehe WELT vom 24.11.2004), als er ausführte, „dass die Pille den Weg zu ein er wahrhaft anthropologischen Revolution größten Ausmaßes eröffnet hat, (weil sie) die Sicht auf die Sexualität als Ganzes verändert hat. Die Pille hat die Sexualität von der Fruchtbarkeit abgekoppelt, und auf diese Weise die Auffassung des menschlichen Lebens überhaupt von Grund auf verändert.

Der Geschlechtsakt hat seinen ursprünglichen Zweck und sein Ziel verloren, die vorher immer offenkundig und eindeutig waren. In der Folge sind seitdem alle Weisen der Geschlechtlichkeit gleichwertig geworden. Dieser Revolution vor allem folgte die Angleichung der Homosexualität an die Heterosexualität.“ Es ist eine fundamentale Frage des Europäischen Menschenbildes, um die hier gerungen wird.

Der Grünen-Politiker Beck freilich, der das sehr komplexe Buch des Papstes jetzt in einem Satz ohne Zusammenhang begreifen will, sieht auch das ganz anders: „Die Politik zur Beseitigung der Diskriminierung von Homosexuellen als Ergebnis einer 'neuen Ideologie des Bösen' zu bezeichnen, ist Volksverhetzung.“Am kommenden Mittwoch werden die Leser selbst darüber urteilen und entscheiden dürfen.

Mit dem letzten Buch Johannes Paul II. wird in jedem Fall wieder ein neues Kapitel der Geschichte des Neuen gegen das Alte Europa a ufgeschlagen werden: in dem Konflikt der aggressiv laizistischen Union gegen das Abendland, das viele schon verdämmern sahen. Der alte kranke Papst hat seine Stimme wieder gewonnen und erhoben, wie er am Sonntag beim Gebet des Angelus am Fenster seines Palastes zeigte, als er die Katholiken aller Welt mit einem Jesus-Wort des Evangelisten Matthäus an seinen „petrinischen Dienst“ erinnerte: „Du bist Petrus und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen.“

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